LANDSCHAFTSLINIEN
Silvie Aigner

aus: "changing views / 6 künstlerinnen / 6 reisen / 1 kunstbuch"
Herausgeber : Kapsch AG, Wien
Datum Verlag, 2010

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Raum und Zeit und die vielfältigen Möglichkeiten, diese wahrzunehmen und auf die Leinwand zu übersetzen, waren seit dem Studium der Malerei bei Maria Lassnig ein wesentlicher Aspekt im Werk von Gerlinde Thuma. Lassnig etablierte als erste Künstlerin an der damaligen Hochschule, heute Universität für angewandte Kunst das Medium Trickfilm, das sie selbst während ihrer Zeit in New York kennenlernte. Doch nicht die Darstellung einer narrativen Abfolge von Zeichnungen interessierte Gerlinde Thuma, sondern die Möglichkeiten, jeweils zwei Variationen ein und desselben Motivs zu komponieren und dadurch den Betrachter zu einem Blickwechsel zu animieren. Je nach Farbgebung spielt sich die mit Kreide auf die Farbe gesetzte Form einmal mehr, einmal weniger in den Vordergrund. Der Perspektivenwechsel vollzieht sich auf einer imaginären horizontalen Linie, die sich durch den Wechsel der Farbflächen ergibt.

Die Kombination von schwarzer Kohle mit Acrylfarbe ist ein Charakteristikum ihrer Arbeiten. Ihre Malerei wechselt dabei zwischen Naturalismus und Abstraktion. Bilder wie die Serie Horizont sind im eigentlichen Sinn abstrakt, doch durch die Linie in der Bildmitte assoziiert der Betrachter Landschaftliches. Diese Orientierung an wenigen Punkten in einer Komposition interessierte die Malerin seit jeher. Ab wann erkennt der Betrachter eine Figur, ab wann sieht er eine Landschaft? Ihre Bilder zeigen Räume ohne klassische Perspektiven und schaffen dennoch den Eindruck von Weite und Tiefe. Alles scheint sich gleichzeitig ins Bild zu schieben. Die beiden verschiedenen Farbflächen unterteilen die Bildebene und setzen sie voneinander ab. Diese imaginäre Linie wird zum Ordnungssystem, das dem Landschaftsraum einen Rahmen gibt und ihn gleichzeitig zur Bühne werden lässt, auf der Gerlinde Thuma die Bewegungen und Motive der Natur inszeniert und in ein neues System, jenes der Malerei, übersetzt. „Linien gebe es überall. Sie seien eine Abstraktion. Wo Raum an sich sei, seien Linien“, wird in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt Alexander von Humboldt paraphrasiert.

In den Arbeiten, die in Chile entstanden sind, wurden die Bewegungen der Menschen und Vögel in der Natur sowie an den Strand geschwemmte Fundstücke zu den zentralen Motiven. Die lebendige Stadt Valparaíso, in der Gerlinde Thuma vier Monate lebte und arbeitete, erkundete sie zu Fuß und mit dem Fotoapparat. Doch weder die malerische Architektur noch das Auf und Ab der Straßen in der am Berghang gelegenen Stadt oder das alltägliche urbane Treiben hielt sie auf der Leinwand fest. Vielmehr wurde der Versuch, die unglaubliche Weite des Horizonts und das Extreme der Landschaft in die Malerei zu übersetzen, zum Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit in Chile. „In Chile muss man unterwegs sein, um die Strukturen zu erkennen“, so die Künstlerin. Sie erkundete das Land zu Fuß und mit dem Auto auf tagelangen Reisen.

Die Fotos waren dabei eine Erinnerungshilfe und boten zugleich die Möglichkeit, aus der Vielzahl des Gesehenen zu abstrahieren und die Wahrnehmung der Realität mit den inneren Bildern zu verbinden. Bei den Spaziergängen am Meer wie auch in der Wüste wurde der Blick durch kein Hindernis unterbrochen. Die nahezu unfassbare Weite der Landschaft kann bis zur Horizontlinie übersehen werden. Diese trennt die Ebenen Wasser, Wüste und Himmel. Rund um diese Struktur spielt sich das Leben der Natur ab. Das Wasser bestimmt in dieser Landschaft sehr augenscheinlich alles und prägt sowohl durch seine Präsenz als auch durch seine Abwesenheit in der Wüste das Land. Die Herausforderung, diese Wirklichkeit in die Malerei zu übersetzen, ohne in eine banale oder romantische Beschreibung zu verfallen, ist Teil eines immanenten Arbeitsprozesses, den Gerlinde Thuma in Chile begonnen hat.

Nur, wie entspricht man einer elementaren Erfahrung in der Malerei? Fragte nicht bereits Umberto Eco in Das offene Kunstwerk, warum man sich überhaupt mit einem Bild beschäftigt, das doch viel ärmer sei als der reale Sand, als die Unendlichkeit der natürlichen Materie, die uns zur Verfügung steht? „Offenbar deshalb“, beantworte Umberto Eco sich selbst diese Frage, „weil nur das Bild es ist, das die rohe Materie organisiert, indem es sie als Feld möglicher Suggestionen eingrenzt.“ Insofern malt Gerlinde Thuma auch keine Landschaftsbilder, sondern schafft in ihren Bildern eine strukturierte Fläche, einen Raum, in dem sich das Ineinandergreifen von sichtbarer Natur, eigenen Assoziationen und den immanenten Prozessen der Malerei entfalten kann.

In den drei großen Werkserien Sog, Strategie und Derrelicto holte Gerlinde Thuma aus der Wahrnehmung der Natur die ihr gemäßen Klänge heraus und übersetzte sie in die Malerei, die dann während des Arbeitsprozesses ihren eigenen Gesetzen folgte. Charakteristisch für die in Chile entstandenen Bilder ist die Offenheit der bildkonstituierenden Elemente. Sie scheinen sich wechselseitig zu bedingen oder auseinander hervorzugehen. Wenngleich wir Figuratives erkennen, entfaltet sich der Zusammenhang erst aus der Gliederung von grafischer Kohlezeichnung und Farbfläche. Die Strategie der Vögel beim Fischfang bedingt eine ständige Bewegung in mehrere Richtungen.

Diese unterwirft Gerlinde Thuma jedoch ihrer eigenen Ordnung. Vom linearen Band am oberen Bildrand bis zur nahsichtigen Schematisierung der wiedergegebenen Vögel, die den Betrachter tief in das scheinbare Chaos des Vogelschwarms hineinzieht. „Aérea – Luft und Flug. Dieses Wort scheint wie erfunden zur Benennung des Himmels voller Vögel, so wie sich dieses Schauspiel in einem Durcheinander verschiedenster Vogelarten in unter-schiedlichstem Flugstil und Tempo über dem Meer abspielte. Mich interessierte dabei auch die über Generationen erprobte Strategie des Überlebens.“ Gerlinde Thuma entzieht ihre Malerei jedoch unmissverständlich einer bloßen narrativen Beschreibung der Wirklichkeit. Das Abbildhafte, Illustrative der Objekte verschwindet, die Kohlezeichnung wird zum bewegten grafischen Duktus, der die Dynamik des Vogelschwarms in eine nahezu abstrakte Bildhaftigkeit übersetzt. Der Dialog der Kohlezeichnung zur statischen Farbebene ist das eigentliche Thema der Bilder und betont auch das Medium Malerei selbst und seine Materialität.

Diese entwickelt sich im Spannungsfeld zwischen Kohlestift und geschichtetem Farbauftrag, der zuweilen eine haptische Oberfläche formt. Der beim Auftragen der Zeichnung der Schwerkraft folgende Kohlestaub bildet schwarze vertikale Streifen, die von Gerlinde Thuma als wichtiges Kompositionselement eingesetzt werden. Vor allem in der Bildserie Sog wird dies besonders deutlich. Zunächst bleibt die räumliche Situation unklar, da Gerlinde Thuma hier die Horizontlinie im hellen Blau des Hintergrundes verschwinden lässt und uns solcherart keine genaue räumliche Situation vorgibt, in der sich die Menschen bewegen.

Sie stehen vereinzelt im Bildraum, dann wieder in Gruppen zusammen. Ihre Bewegungen sind irritierend. Der Kohlestaub bildet einen schwarzen Kegel unter den Figuren. Erst auf den zweiten Blick erfasst man die Situation. Sog stellt die Menschen dar, die am Ufer des Pazifiks spazieren gehen. „Durch den Humboldtstrom ist der Pazifik entlang der chilenischen Küste sehr kalt, die Menschen gehen daher kaum schwimmen, sondern spazieren im seichten Wasser entlang dieser herrlichen Strände“, wie die Künstlerin erklärt. Der Sog, wenn die Brandung zurückweicht, ist so stark, dass die Menschen sich mit ihren Füßen gegen die Kraft des Wassers stemmen. Sie versuchen in der Brandung die Balance zu halten. In den Bildern erhalten sie durch die schematische Darstellung eine eindrückliche Präsenz.

Die saugenden Kräfte, Zonen und Phasen der Wassermassen, die durch die Wucht der Wellen erzeugt werden, übersetzt die Künstlerin in ein einheitliches Blau, das die Figuren umgibt und sie noch ausgesetzter erscheinen lässt. Die Figuren sind mit Kohle gearbeitet, ein Material, das auf der Leinwand erst Halt findet, wenn die Farbe getrocknet ist, selbst dann rieselt dieses leichte Material durch die Schwerkraft die Leinwand hinunter, entzieht den Figuren dabei ihr Gewicht, sodass die Struktur des Wassers wieder durchscheint. Diese Grenze zwischen Wasser und Land entlang der Küste übte eine besondere Faszination auf die Künstlerin aus, die sowohl in den Arbeiten Sog zum Ausdruck kommt als auch in der Serie Derrelicto, die jene Dinge ins Bild rückt, die vom Meer ans Ufer gespült werden. Das Land erkundete die Künstlerin auf ihren Reisen durch das Land. Das Unterwegssein in dieser wechselvollen Landschaft hielt die Künstlerin auf einer Reihe von Papierarbeiten fest. Frottagen sowie Papierarbeiten, die eine Schale als kontinuierliche Ausgangsform hatten.

„Die direkte Berührung mit diesen Mächten möchte man anhalten. Unterwegs zeichne ich mit dem Papier direkt auf dem Stein liegend Gefäße – zum Zeichen des Fassens, Haltens, Bewahren-Wollens – in Form von Frottage, die die jeweilige Oberflächenstruktur des Steines übernehmen, oder im fahrenden Auto Schalen. Doch die Erschütterungen der unasphaltierten Straße und die holprige Struktur des Bodens beeinflussen den Strich, während ich mich bemühe, eine geschlossene Form der Schale zu finden und das Gefäß zu schließen.“

Im Atelier in Valparaíso sichtete sie nach der langen Zeit des Unterwegsseins die Fotos und reflektierte die inneren Bilder, um schließlich aus der Distanz der Eindrücke ihre Bilder zu entwickeln. Gerlinde Thumas Malerei ist dabei an einer besonderen Schnittstelle angesiedelt – dort, wo die beiden Systeme, jenes der Natur und jenes der Malerei, zusammentreffen. Die Wahrnehmung der Natur und des Lebens erfolgt vor und parallel zu der Formgebung im Kunstwerk und wird mittels Reduktion und einer Abstraktion der Wirklichkeit in die Malerei übersetzt. Diese wird zur Sehhilfe für die Atmosphäre der Wirklichkeit. Vielleicht auch im Sinne Paul Celans, der seine Gedichte als Geschenk an die Aufmerksamen verstand.

Verwendete Literatur:

Paul Celan, Brief an Hans Bender, in: Paul Celan, Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt 1988.
Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main, 1977.
Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Reinbek 2005.