Die Seele denkt niemals ohne Vorbild (nach Aristoteles)
Silvie Aigner

2004
veröffentlicht im Kapsch Kalender

 

Mehrmals seit Beginn der Moderne wurde die Malerei als Technik oder das Tafelbild als Medium für obsolet erklärt. Demgegenüber steht allerdings eine vitale und ungebrochene Kontinuität der malerischen Praxis vieler zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen, so wie die stets euphorisch reklamierte Wiedergeburt der Malerei. Der medienimmanente Diskurs über das, was Malerei ist oder sein kann, führte bis in die Generation der heute um die 40jährigen KünstlerInnen, in deren Oeuvre die Malerei gleichwertig neben der Objektkunst, Fotografie oder der Rauminstallation steht. So ist auch das Werk Gerlinde Thumas ein Beispiel für die Interaktion der verschiedenen Medien, für das Ausloten einzelner Themen in den Bereichen Malerei, Objekt, Fotografie und Land Art. Darüber hinaus entstehen räumliche Installationen in direktem Zusammenspiel mit den Kompositionen ihres Mannes Reinhard Süss.

In vertikaler oder horizontaler Gegenüberstellung setzt sie ihre Leinwände zur Bildform des Diptychons zusammen. Zweiteiligkeit als kleinstmögliche Form, um Zeitabläufe – Zeitabschnitte oder Variationen einer formalen Idee darstellen zu können. Gerlinde Thuma studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien Malerei und Trickfilm in der Meisterklasse von Maria Lassnig. Das Aufbauen eines kontinuierlichen zeitlichen Ablaufes anhand eines Kaders, einer Zeichnung, die in der Folge im Trickfilm als bewegte Bilder ablaufen, entwickelte Thuma in ihren Doppelbildern weiter, um Zeit sichtbar zu machen im statischen Medium der Malerei. Während der Film Bild um Bild hintereinander ablaufen lässt, hält die Malerei den Zeitablauf an. Das der Zeit immanente Davor und Danach ist im Malprozess enthalten, in der Zeichnung mit Kohle, einem Material, dessen Entstehungsprozess Zeitlichkeit voraussetzt und dem Auftragen vieler lasierender Farbschichten übereinander. Aus dem Arbeitsprozess an den beiden zueinander gesetzten Bildern ergibt sich so ein neues, gegenwärtiges Drittes. Zwei Bilder, die durch ihre horizontale oder vertikale Teilung zweimal die gleiche künstlerische Intention, den gleichen Gedanken formulieren und erst durch das Zueinandersetzen zur gültigen Aussage werden. Wenngleich die graphische Linie der Kohlezeichnung zumeist gestisch, mit großer Sicherheit und Expressivität in die Leinwand gesetzt wird, so bestimmen strukturierte formale Kriterien die Aspekte der Variationen, wie auch die Teilung stets streng in der Mitte erfolgt. Gerlinde Thuma selbst bezeichnet dieses Annähern an die Fläche als „Balanceakt zwischen Gestik, meditativem Erspüren und exakter Form“. Sie arbeitet direkt auf die Leinwand und setzt zunächst die Zeichnung mit der Kohle auf den Bildträger. Die Farbe, die als homogene, exakte Fläche über die Zeichnung gelegt wird, oder stark lasierend der Bewegung der Kohlezeichnung folgt, bestimmt die Dimension des Raumes. Je nach Lasur sind die Farbflächen transparenter oder opaker, dunkler oder heller und heben damit die Zeichnung auf eine bestimmte Ebene. Das heißt sie scheint einmal weiter in die Leinwand zu sinken, während sie anderseits im Bildvordergrund vor einer dunklen Fläche schwebt. In einer Werkserie weicht die offene gestische Straffur der Kohlezeichnung dem Umriss einer geschlossenen Form, die Assoziationen mit einem Stein erlaubt. Durch die horizontale Teilung wird er in zwei Wirklichkeiten getaucht und beginnt im Spannungsfeld dieser Kante einen Balanceakt, eine Drehung auf einer Achse, die geschlossene, kompakte Form scheint aufzubrechen. Die Linie, an der die Leinwände aufeinander treffen, erinnert vor allem im Übereinandersetzen der Tafeln an einen Horizont. Das Brechen der Form an einer Achse bzw. das Spiel mit dem Horizont beschäftigt die Künstlerin auch in ihren Land Art Projekten, wie in der Arbeit Kust till Kust in Bergkvara in Schweden, die Ende des Sommers 2004 entstand, in der sie eine ca. 120 m lange Linie aus Rindenmulch in die Graslandschaft von einer Küste zur anderen durch eine enge Meeresbucht zog.

Ausgangspunkt vieler Bilder ist die Natur selbst. Gesehenes, wie das Schattenspiel der Äste, Gebirgsformationen, Gestein bilden Archetypen eines Formenrepertoires, das sich die Künstlerin als Auslöser für eine künstlerische Umsetzung auf der Leinwand in Gedanken abruft. Ihre Bilder zeigen Natur jenseits eines literarisch- bestimmten oder dokumentarischen Blickwinkels, sondern als Instanz, als ursprünglich und universell, als etwas schweigsam Elementares.

Das Abbildhafte, Illustrative der Objekte verschwindet, ihre Setzung im Bildgrund wird zunehmend wichtiger und der Zeichenduktus entzieht sich jeder Beschreibung, die Motive dienen ausschließlich als Ausgangspunkte malerischer und graphischer Prozesse. Das Bild ist im eigentlichen Sinn ungegenständlich und bleibt dennoch offen für Assoziationen. Die Künstlerin interessiert dabei, ab wann minimale primäre Erkennungsmerkmale genügen, die Darstellung mit dem Erkennen von Landschaftlichen oder einer Figur zu verbinden, denn die Seele, so wurde bereits Aristoteles zitiert, denke niemals ohne Vorbild – eine Art phänomenologische Überlegung zur Einbildungskraft, die besonders stark scheint, wenn die Bilder übereinander geordnet sind und somit unweigerlich Interpretationen landschaftlicher Art evozieren. So erscheinen auch ihre Figuren vielfach nur als Silhouetten, eingebettet in das Schwarz der um sie aufgetragenen Kohleflächen. Trotz oder gerade wegen des Fehlens der Darstellung individueller Charakteristika zeigen sie eine Umsetzung differenzierter Emotionalität und Befindlichkeit. Hier dreht die Künstlerin den sonst üblichen Arbeitsprozess um und setzt zuerst die Farbe auf die Leinwand und darüber die Kohlestraffur. Die Figur wird demnach von ihrer Umgebung geformt, vom Schwarz der Kohleflächen. Je nachdem wie diese von der Künstlerin aufgetragen werden, scheint die Figur stark genug um sich dennoch nach vorne zu spielen, oder sie bleibt als schemenhafter Schatten ihrer selbst tief im Hintergrund des Bildes. Die Übertragung von Zeit auf die Oberfläche eines statischen Trägers setzt das Wissen um die sich stets veränderten Realitäten von Raum und Wirklichkeit voraus. Gerade durch das Aufnehmen und Fortführen ein und derselben formalen Idee wird diese Veränderung darstellbar. Durch die für die Künstlerin charakteristische Verbindung einer kraftvollen, expressiven Graphik und die Konzentration auf zumeist eine Farbe in all ihrem Nuancenreichtum, evozieren die Bilder von Gerlinde Thuma beim Betrachter ein Innehalten, um dann um so mehr in die Bewegtheit und die poetischen Räume ihrer Bilder eintauchen zu können.

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